Interview mit dem Regisseur Robert Krieg

Dein Film Trotz Alledem, Tevî her tişti, ist dein zweiter Dokumentarfilm, den du in Rojava, der kurdischen Verwaltung in Nord- und Ostsyrien, realisiert hast. Das Experiment Rojava (2019) fokussiert auf den Aufbau der Selbstverwaltung, in Trotz Alledem stehen Frauenprojekte und Frauenarbeit in Zentrum. Gedreht hast du im Krieg. Was waren die Drehbedingungen? Und konntest du den Film umsetzen, den du geplant hattest?

Während der Dreharbeiten zu „Experiment Rojava“ habe ich verstanden, welche entscheidende Rolle die Frauen in diesem Projekt des Aufbaus einer egalitären Gesellschaft spielen. Ich habe sie dabei als Rückgrat erlebt, – und das über alle gesellschaftlichen Schichten und Segmente hinweg, unabhängig vom Bildungsgrad, vom Alter oder der familiären Position innerhalb einer traditionell ganz überwiegend tribalen Struktur.

Am Tag meiner Ankunft Anfang Oktober 2023 flog die türkische Luftwaffe die heftigsten Angriffe seit langem. Wäre ich mit einem deutschen oder europäischen Team eingereist, hätte ich das Filmprojekt abbrechen müssen. Da ich mit einem einheimischen Team gedreht habe, sah die Lage anders aus. Meine Mitarbeiter/innen bestanden darauf, den Film zu realisieren. Allerdings war der im Verlauf von zwei Jahren entstandene Drehplan weitgehend hinfällig geworden. Einer unserer wichtigsten Drehorte laut Plan lag in unmittelbarer Nähe einer Raffinerie, die bei den Angriffen zerstört worden war. Die dort arbeitenden Frauen hatten eine moderne und ökonomisch erfolgreiche Agrargenossenschaft aufgebaut, die nun akut bedroht war.  Sie wollten weder uns noch sich selbst während der Dreharbeiten gefährden und sagten die Zusammenarbeit mit uns ab. Wir waren ad hoc gezwungen, neue Protagonistinnen zu finden. Innerhalb weniger Tage entstand ein alternativer Drehplan mit neuen Protagonistinnen an neuen Orten. Statt der Fokussierung auf zwei Drehorte, auf zwei von Frauen betriebene Agrarkooperativen ist ein Roadmovie entstanden, der einmal quer durch die selbstverwaltete Region Rojava im Norden und Osten Syriens führt. Das Frauendorf Jinwar, dessen Bewohnerinnen ursprünglich ebenfalls aufgrund der kriegerischen Situation abgesagt hatten, konnten wir in der zweiten Hälfte unserer Drehzeit dann doch noch besuchen, nachdem sich die Situation etwas entspannt hatte.

Dein Stab bestand ausschließlich aus Kolleg*innen vor Ort. Woher kanntet ihr euch? Und an was für Filmprojekten arbeiten sie sonst? Kannst du sie etwas vorstellen?

Anlässlich der documenta Kassel 2022 lernte ich eine Gruppe von Filmschaffenden aus Rojava kennen, darunter die Filmemacherin Sevinaz Evdike. Sie hat neben mehreren eindrücklichen Kurzfilmen einen langen Spielfilm über die Vertreibung der Menschen aus den Grenzgebieten durch das türkische Militär und ihre islamistischen Helfershelfer gedreht. Ihr Drehbuch ging auf die Erfahrungen ihrer eigenen Familie zurück. Sevinaz wurde zum Motor bei der Zusammenstellung des Teams und unterstützte mich als Produktionsleiterin vor Ort. Wir konnten uns auf ihre Kenntnisse verlassen, die sie bei der mitunter jahrelangen Betreuung ausländischer Filmemacher/innen gesammelt hatte. Unsere Aufnahmeleiterin Rojda war eigentlich „fachfremd“ als angehende Pharmazeutin.  Aber innerhalb kürzester Zeit machte sie sich unersetzbar als Übersetzerin und bei der Organisation und Überwachung der Drehtage. Die Suche nach neuen Protagonistinnen haben meine Aufnahmeleiterin und meine Produktionsleiterin bravourös angegangen und meisterhaft gelöst.

Unser Kameramann Mansour Karimian, für uns alle „Piro“, ein Kurde aus dem Iran, ist mir während der Dreharbeiten ans Herz gewachsen. Seine Empathie und Besonnenheit im Umgang mit unseren Protagonistinnen war entscheidend für das Vertrauen und die Nähe, die sich trotz der kurzen Zeit des Miteinanders herstellte. Umso schrecklicher war für mich die Nachricht von seinem Tod durch einen türkischen Luftangriff wenige Wochen nach Drehschluss.

2011, im Jahr der Erhebungen in Syrien, hat die kurdische Frauenbewegung mit dem Aufbau der Jineologie, der Frauenwissenschaft begonnen. Im Kontext des Frauendorfs Jinwar, dem ersten Projekt, dass der Film vorstellt, wird sie erwähnt. Kannst du kurz was zu der Wissenschaft und ihrer Bedeutung, ihrem Einfluss in Rojava erzählen?

Wir haben allen Protagonistinnen des Films die Frage nach der Frauenwissenschaft gestellt.  Und inwieweit sie Einfluss auf ihr Leben nimmt. Bis auf die Bewohnerinnen von Jinwar konnte keine der Frauen damit etwas anfangen. Das heißt aber nicht, dass die konkreten Auswirkungen der Jineologie nicht erfahrbar sind. Es gibt praktisch kein Dorf und bestimmt keine Stadt, die nicht über eine Beratung und Anlaufstelle für gefährdete Frauen verfügt,- was man bei uns als Frauenhaus bezeichnen würde. Auch Männer aus bildungsfernen Schichten wissen und respektieren das. Wo gibt es so etwas im restlichen Syrien oder in den umliegenden Ländern? Ganz entscheidend für die Verbreitung der Jineologie wird ihre Verankerung im schulischen Unterricht werden. Das steckt aber noch in den Anfängen. Eine Antwort wird man erst mit der kommenden Generation bekommen.

Inwieweit sind die Projekte, die im Film vorgestellt werden kriegsbedingt entstanden? Zu welcher/welchen sozialen Klassen gehören die Frauen in dem Film?

Ganz sicher ist die durch den Krieg entstandene prekäre Situation ein Antrieb, nach kreativen Lösungen des ökonomischen Überlebens zu suchen. Aber fast alle Protagonistinnen haben auch herausgestellt, wie entscheidend das eigene Geld für die persönliche Emanzipation ist. Der eigene Verdienst sei die Voraussetzung für persönliche Freiheit und die Überwindung der patriarchal gesetzten Normen.  Das gilt für alle Frauen, unabhängig von ihrer Klassenherkunft. Zum Beispiel hatte die Yesidin Delal viele Möglichkeiten für persönliche Annehmlichkeiten, so lange sie nicht die gesetzten Normen für eine verheiratete Frau in einer patriarchalischen Kultur infrage stellte. Ihren Wunsch nach Freiheit und beruflicher Qualifikation hätten sie und ihre Kinder beinahe mit dem totalen sozialen Absturz bezahlt. Das Frauendorf Jinwar hat sie gerettet.

Welche Rolle spielen die Internationals und die kurdische Diaspora in Rojava, besonders in den Frauenprojekten? Aus welchen Ländern kommen die Frauen?

Sobald man auf institutionalisierte Strukturen trifft, wird man Frauen sowohl aus der internationalen Unterstützer-Szene als auch aus der kurdischen Diaspora begegnen. Im Frauendorf Jinwar gehäuft. Meine erste Kontaktperson in Jinwar während meiner Recherche war eine deutsche Internationalista. Eine aus der Türkei stammende Agraringenieurin setzt ihr fachliches Wissen in der Agrarkooperative ein und schult die Frauen im Projekt. Die Frauen aus der westlichen Unterstützer-Szene bestätigen den in Jinwar lebenden Frauen allein durch ihre Anwesenheit die Bedeutung des Projekts und die Ausstrahlung, die es international hat.

Trotz Alledem ist nicht dein erster Film über den Aufbau von Basisdemokratie. Du hast mit der PLO im Libanon und in Palästina Filme zum Aufbau selbstverwalteter Gesellschaftsformen gemacht und mit Das Experiment Rojava bereits 2019 einen Film in Rojava fertig gestellt. Was interessiert dich an den Projekten und was ist aus ihnen geworden?

Ein Artikel in der Le Monde diplomatique machte mich 2018 erstmals auf Rojava aufmerksam. Mich faszinierte sofort dieser Versuch der Verwirklichung einer basisdemokratischen Gesellschaft. Das geht u. a. zurück auf mein Soziologie-Studium. Ich wollte mehr wissen über herrschaftsfreie Institutionen. Den Versuch, Herrschaft zu dezentralisieren und Staatlichkeit auf ein Minimum zu reduzieren. Dieses Thema durchzieht einige meiner Filme, die ich in den sahrauischen Flüchtlingslagern in Algerien, mit palästinensischen Flüchtlingen im Libanon, in Palästina und jetzt in Nord- und Ostsyrien gedreht habe. Es ist also kein Zufall, dass es sich dabei um Gesellschaften ohne eigenen Staat handelt. Bei den meisten Menschen, denen ich dort während meiner Filmarbeiten begegnet bin, bestand und besteht bis heute die Überzeugung, dass sie ihre kulturelle Identität nur in einem eigenen Nationalstaat behaupten können. Am offensichtlichsten im Widerspruch dazu baut die demokratische Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien ein kommunitäres, konföderales Gesellschaftsmodell auf, das auf staatlich-hierarchische Strukturen zu verzichten versucht zugunsten einer dezentralen, basisnahen Selbstverwaltung ohne den Anspruch auf staatliche Souveränität in klar definierten eigenen Grenzen. Zum ersten Mal habe ich in Rojava den Willen erlebt, ohne einen eigenen Staat auskommen zu wollen bei unbedingter Beibehaltung der eigenen Identität.

Seit Dezember 2014 hat es enorme politische Veränderungen in Syrien gegeben: das Land wird derzeit von der HTS (Hayat Tahrir al-Sham, vormals Nusra Front) regiert, die ihren Ursprung in al-Qaeda hat, die „Demokratischen Kräfte Syriens“ (SDF) – eine sehr breite von den USA unterstütze und kurdisch geführte Koalition – haben mit den neuen Machthabern in Damaskus eine Art Kooperationsvereinbarung geschlossen und die kurdische Arbeitspartei PKK, die eine wichtige Rolle im Aufbau der Rätegesellschaft in Rojava spielte, hat Mitte Mai 2025 ihre Auflösung bekannt gegeben. Kannst du schon ermessen, was all das für die Frauen in deinem Film und die gesellschaftlichen Modelle für die sie stehen bedeutet? Bist du in Kontakt mit ihnen? Was erzählen sie?

Ganz offensichtlich werden die Verhandlungen in Damaskus in erster Linie nicht durch Vertreter/innen der autonomen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien geführt, sondern durch den Kommandeur der „Demokratischen Kräfte Syriens“ (SDF). Da stellt sich nicht nur für mich die Frage, welche Konsequenzen das für die Errungenschaften des föderalen und basisdemokratischen Politikmodells hat. Werden sie überhaupt in die Gespräche miteinbezogen? Wie kann verhindert werden, dass die Logik des militärischen Apparats – eine notwendigerweise hierarchisch angeordneten Kommandostruktur –  ihre autoritären Spuren einer Gesellschaft aufdrückt, die sich zu radikaler Demokratie verpflichtet hat? Bisher hat man in Rojava die Gratwanderung zwischen militärischer Selbstverteidigung und antiautoritärer Politik erstaunlich gut hinbekommen. Viel wird davon abhängen, ob es beim Wiederaufbau Syriens auf eine föderale Struktur, die die Vielfalt der ethnischen Siedlungsgebiete berücksichtigt, oder einen zentralistischen Staat nach altem Muster hinausläuft. Israel und der Westen bevorzugen einen dezentralen „schwachen“ Staat. Das wäre eine Hoffnung für Rojava aber ein Albtraum für das türkische Regime. Denn die kurdische Selbstverwaltung „könnte sich nach Einschätzung des Politologen Halil Karaveli zu einem zuverlässigen Verbündeten Israels am strategischen Knotenpunkt zwischen Anatolien, Mesopotamien und der Levante entwickeln.“ (Le Monde diplomatique, Mai 2025, S. 9)

Hoffnungsvoll macht mich das politische Bewusstsein, dass sich durch die Praxis eines kommunitären Gemeinschaftsgeists, angefangen bei Stadtteil-Komitees, in den Köpfen der Menschen ansammelt und widerständig macht gegen Autoritarismus und einsame Entscheidungen, die geostrategische Interessen anderer bedienen.