Hintergrund – Frauen und Frauenrechte in Rojava

I.

In Rojava, der autonomen kurdischen Region im Norden Syriens an der Grenze zur Türkei, ist ein außergewöhnlicher gesellschaftlicher Prozess im Gang. Inmitten eines Krieges, der Hunderttausenden das Leben gekostet und Millionen Menschen in die Flucht getrieben hat, gehen viele der dort lebenden Frauen daran, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen und sich zu empowern. Die emanzipatorische kurdische Frauenbewegung fordert die Macht-strukturen im Nahen Osten heraus. Ohne sie ist die Verwirklichung einer basisdemokratischen, autonomen Selbstverwaltung in Rojava, in der die Bevölkerung das Sagen hat, nicht denkbar. Die Vehemenz und Gewalttätigkeit, mit der der benachbarte autoritäre türkische Staat darauf reagiert, lässt erahnen, wie sehr auch er, jenseits der Grenze, sich davon in Frage gestellt sieht und befürchtet, dass der Funke dieser ideellen und teilweise bereits vorgelebten Radikalität, mit der die Menschen in Rojava den kulturellen Wandel vorantreiben, auf die eigene Gesellschaft überspringen könnte. Aber auch von den kurdischen Machthabern im Norden Iraks ist keine Unterstützung zu erwarten. Zu sehr sehen sie von den Entwicklungen in der Nachbarschaft ihre eigenen Privilegien bedroht.
Das antihierarchische, konföderale Demokratiemodell, das die Frauen gleichberechtigt beteiligt und selbstbewusst im öffentlichen Raum auftreten lässt, hat, auch aus westeuropäischer Sicht, einen fast schon utopischen emanzipatorischen Charakter und zeigt, dass und wie es möglich ist mit den eigenen Ressourcen und trotz aller Widerstände einen Gegenentwurf zu den männerdominierten Herrschaftsverhältnissen im Nahen Osten zu realisieren. 

Der Druck ist gewaltig und von ständigen Opfern begleitet. Die türkischen Überfälle und Besetzungen von Teilen Rojavas haben die Menschen vertrieben und zu Geflüchteten im eigenen Land gemacht. Die marodierenden, islamistischen Söldner, die Opfer in den Reihen der türkischen Armee vermeiden sollen und für sie die „Drecksarbeit“ machen, terrorisieren die Bevölkerung und ermorden systematisch Frauen, die in der Bewegung aktiv sind. Hevrîn Xelef war Generalsekretärin der von einem basisdemokratischen Initiativprinzip geleiteten syrischen Zukunftspartei (Hizbul Suri Mustakbel) und Hoffnungsträgerin eines vielfältigen, demokratischen Syriens. Am 12. Oktober 2019, wurde die 34-Jährige im Zuge des Angriffskrieges der Türkei gegen Nordsyrien ermordet. Mitglieder der Dschihadistenmiliz „Ahrar al-Sharqiya hatten Xelef aus ihrem Wagen gezerrt und ihren Körper verstümmelt, bevor sie hingerichtet wurde. Am 23. Juni 2020 tötete eine türkische Drohne drei Kurdinnen bei Kobanê in Nordsyrien. Zehra Berkel und Hebûn Mele Xelîl vom Frauendachverband Kongreya Star sowie ihre Gastgeberin Amina Waysî wurden gezielt ermordet, als sie im Garten eines Hauses im Dorf Helincê saßen. Die Journalistin Cîhan Bilgin war am 19.12.2024 mit ihrem Kollegen Nazim Daştan auf dem Rückweg von Dreharbeiten am heftig umkämpften Tischrin-Staudamm am Euphrat, als sie von einer Drohne getötet wurden. Laut der Journalistinnen-organisation Women Press Freedom war Cîhan Bilgin bereits die dritte Journalistin, die 2024 durch einen türkischen Drohnenangriff getötet wurde.

II.

Inzwischen gibt es in allen Städten und den meisten Gemeinden des autonomen Gebiets Frauenzentren und Frauenhäuser, – koordiniert von Kongreya Star, einem Zusammenschluss von Frauenorganisationen, deren Arbeit auf dem Anspruch basiert, dass ohne die Befreiung der Frauen eine wirklich freie Gesellschaft nicht möglich ist. Der Aufbau der Selbstverwaltung unter aktiver Beteiligung der Bevölkerung ist undenkbar ohne die Beteiligung der Frauen. Auf allen Ebenen der basisdemokratischen Selbstverwaltung gibt es einen gemeinsamen Vorsitz von jeweils einer Frau und einem Mann.

Zur Befreiung der Frau gehört ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit. Kongreya Star fördert die Gründung von Frauen-Genossenschaften, um die traditionellen Abhängigkeitsverhältnisse von Ehepartner und Familie zu durchbrechen und die Frauen auf eigene ökonomische Füße zu stellen. Diesen Start-Up-Unternehmen stellt die Selbstverwaltung Gebäude, Grundstücke oder Ackerböden aus vormals staatlichem Besitz zur Verfügung. Die Genossenschaftlerinnen zahlen jeweils den gleichen Grundbeitrag ein. Mindestens ebenbürtig mit dem wirtschaftlichen Erfolg ist die Stärkung des individuellen Selbstbewusstseins und des kommunitären Gemeinschaftsgeistes: „Unser Ziel ist es, das kommunale Leben auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten und die Wirtschaft der Region zu stärken. Wir wollen keinen Profit machen, im Gegenteil, wir wollen diese um Profit kreisende Mentalität vernichten“ sagt Armanc Mihemed aus der Leitung des Komitees für Frauenökonomie. Dabei knüpfen die Frauen durchaus an Erfahrungen aus der traditionell bäuerlichen Gesellschaft an: „Früher hat die Frau in der Landwirtschaft gearbeitet und war am Bau der Häuser beteiligt wie in vielen anderen Bereichen. Daran möchten wir anknüpfen und unsere materielle Unabhängigkeit wieder in die eigene Hand nehmen. Wenn Du deinen Mann um Geld bittest, ist das beleidigend für dich selbst. Aber wenn du rausgehst, arbeitest und selbst verdienst, egal wie viel, dann bist du selbstständig und kannst froh sein“ sagt die Genossenschaftlerin Felek Mihemed aus Amude. Aus dem Haus zu kommen, ist ein zentrales Motiv. Seit 2011 bauen die Frauenzentren Frauenakademien und ein Netzwerk lokaler Diskussionsgruppen auf. Es werden Diskussionen zu Themenfeldern wie Frauen und Sozialwissenschaften, Frauen und Ökonomie, Frauen und Geschichte, Frauen und Politik, Frauen und Demographie sowie weiblicher Ethik und Ästhetik geführt. Dabei ist der Leitgedanke, „Wissen und Wissenschaft nicht aus dem sozialen Feld herauszulösen, nicht zu elitisieren, sie nicht zur Basis der Macht zu machen und die gesellschaftlichen Beziehungen stets stark zu erhalten.“ (2)

III.

Die Frauen in Rojava haben eine neue Wissenschaft gegründet: Jineologie, Frauenwissenschaft. Jin ist kurdisch und bedeutet „Frau“, Logie stammt von dem griechischen Begriff für Wissenschaft ab. Es handelt sich um eine prozesshafte Wissenschaft, die sich theoretisch und praktisch äußert. Das Besondere daran ist, dass sich die Theorie unmittelbar in der Praxis äußert und die Praxis unmittelbar die Theorie beeinflusst. Gesellschaftstheoretische Erkenntnisse der Jineologie werden in der Praxis erprobt, und die sich aus der praktischen Anwendung ergebenden Fragestellungen werden in die Theorie zurückgespiegelt. Denn die Jineologie hat den Anspruch, keine Elfenbeinturm-Wissenschaft zu sein, sondern grundlegend und unmittelbar die Lebensverhältnisse der Frauen zu verändern. Sie geht hinaus in die Gesellschaft und konfrontiert sich mit der Lebenswirklichkeit von Frauen, die von den konservativen Vorstellungen einer patriarchalischen Stammes-gesellschaft geprägt ist: Was bedeutet es für eine Frau in mittleren Jahren aus bäuerlichen Verhältnissen mit mangelhafter Schulbildung, an einem zweiwöchigen Einstiegs-Seminar für Jineologie teilzunehmen? Da wird ihre ganze bisherige Welt auf den Kopf gestellt. Angefangen damit, dass ihr Haushalt ohne sie zwei Wochen weiterlaufen muss. Wie denken ihr Mann, ihre Familie darüber, dass sie sich ohne männliche Begleitung oder genauer gesagt ohne männliche Kontrolle wenn auch zeitlich begrenzt in ein Umfeld jenseits der Familie und der Stammeszugehörigkeit begibt?  Was denken ihr Mann, ihr Vater, ihre Brüder, ihre Familie, ihr Clan, wenn sie sich die Freiheit nimmt, sich weiterzubilden und dadurch die bestehenden Machtverhältnisse im konkreten Alltag zu hinterfragen?

Die Jineologie macht den Menschen in Rojava und darüber hinaus den Gesellschaften im Nahen Osten einen radikalen Vorschlag: Sie will den Frauen jenseits herkömmlicher Bildungsprozesse einen Zugang zum Wissen und zur Wissenschaft ermöglichen, der sich der Kontrolle der herrschenden, ganz überwiegend patriarchalisch geprägten Machtzentren entzieht.

Die bisher genannten Aspekte der Frauenrevolution in Rojava, auf dessen Boden sich bis heute Spuren aus der Epoche des Matriarchats erhalten haben, können hier nur angerissen werden. Sie bieten Stoff für mehrere Filme.  Gleichwohl wollen wir den Versuch unternehmen, die nach unserer Ansicht „revolutionär“ zu nennende Praxis exemplarisch erleb- und fühlbar zu machen, indem wir über einen längeren Zeitraum hinweg Leben und Arbeit in einer Frauen-Genossenschaft begleiten.

(1) aus dem Gesellschaftsvertrag der Demokratischen Föderation Nordsyrien, Artikel 13 und 26

2) aus:“Jineologie bedeutet Frauenwissenschaft und zugleich auch Lebenswissenschaft von GÖNÜL KAYA Vortrag 2014 in Köln)

(aus Robert Krieg: Warum wir den Film machen wollen, in 2025 leicht überarbeitet)